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7. Aug 2014, Wirtschaft | Michael Ziesemer

«Fortschritt findet statt, wo sich Disziplinen begegnen»

Interview mit Michael Ziesemer anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten des Deutschen Zentralverbandes Elektrotechnik und Elektronikindustrie ZVEI.

Michael Ziesemer, stellvertretender Chef des Messtechnik-Spezialisten Endress+Hauser, ist der neue Präsident des Deutschen Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI). «Die Energiewende und die Digitalisierung aller Lebensbereiche sind die grossen Herausforderungen», sagt der erfahrene Manager im Gespräch.

Herr Ziesemer, als Präsident des ZVEI vertreten Sie fortan auf höchster wirtschaftlicher und politischer Ebene die Interessen der Elektroindustrie. Was reizt Sie an dieser Aufgabe?

ZIESEMER: Das höchste Ehrenamt in diesem Verband zu übernehmen ist natürlich eine wunderbare Aufgabe, da es eine überaus produktive und innovative Branche ist. Der ZVEI hat 1.600 Mitgliedsunternehmen, die 1,5 Millionen Mitarbeiter im In- und Ausland und zehn Prozent der deutschen Industrieproduktion repräsentieren. Das hat grosse Bedeutung für die Beschäftigung in Deutschland und – aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung – auch in ganz Europa. Diese Arbeit ist absolut wichtig! Die Branche berührt grundlegende Fragen der Gesellschaft wie Innovation und Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit. Solche Zukunftsthemen zu bewegen ist eine tolle Sache.

Warum braucht es den ZVEI?

ZIESEMER: Es gibt eine ganze Reihe von Themen, die Unternehmen besser gemeinsam lösen. Da geht es beispielsweise um Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, aber auch um zukünftige Berufsbilder, das Marktdesign in einer Branche oder um rechtliche Fragen. Der ZVEI beobachtet den Markt und erstellt Technology Roadmaps. Denken Sie an Themen wie das Recycling und die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft, die Biotechnologie oder die völlig neuen technischen Anforderungen von Mega-Cities. Vor allem aber pflegt der Verband den Dialog mit Politik und Öffentlichkeit.

Sie betreiben klassisches Lobbying?

ZIESEMER: Wenn wir uns mit Spitzenpolitikern austauschen, dann geht das weit über Branchen-Lobbying hinaus. Letztlich geht es um Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in Europa. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir unseren hart erarbeiteten Wohlstand auch noch in 20 Jahren so haben werden. Der Anteil der europäischen Elektroindustrie am Weltmarkt ist in den letzten 20 Jahren um nahezu 10 Punkte auf etwa 17 Prozent gesunken. China, Indien, Brasilien haben diese Marktanteile gewonnen.

Technologien ändern sich. In vielen Bereichen ist Europa führend – gerade bei intelligenten Systemen. Doch diese Führungsposition muss immer wieder neu errungen werden. Dafür werde ich mich als Präsident des ZVEI einsetzen. Viele Firmen entwickeln in Europa und fertigen in Billiglohnländern.

Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Blaupausenkonzept nicht funktioniert. Wir müssen auch hier in Europa fertigen. Wir brauchen die enge Verbindung von Fertigung und Entwicklung, wir brauchen das Feedback aus dem Produktionsprozess. Und noch mehr brauchen wir das Feedback unserer Kunden für neue Entwicklungen.

Im ZVEI sitzen auch direkte Wettbewerber am runden Tisch. Ist Kooperation überhaupt möglich?

ZIESEMER: Hier hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen. Herrschte früher Wettbewerb oder Zusammenarbeit, heisst die Losung heute Wettbewerb und Zusammenarbeit. Die gewaltigen Umwälzungen – denken Sie an die Digitalisierung – kann keiner mehr im Alleingang meistern. Es ist das Schicksal der Unternehmen stärker zusammenzuarbeiten, wollen sie erfolgreich sein.

Moderne Technologie wird durch Kooperationen geprägt und weitergetrieben. Fortschritt findet statt, wo sich Disziplinen begegnen; wo sich Elektrotechnik und Maschinenbau oder Elektrotechnik und Software berühren. Natürlich gibt es auch Risiken, wenn direkte Wettbewerber zusammenarbeiten. Die Regeln des Wettbewerbsrechts müssen selbstverständlich eingehalten werden. Auch dafür sorgt der ZVEI.

Geben im Verband nicht einfach die Big Player den Takt vor?

ZIESEMER: Tatsächlich gehören Grossunternehmen wie Bosch, Siemens und ABB zum Verband und prägen ihn, aber der ZVEI war stets auch die Stimme des Mittelstands. Vertreter mittlerer Unternehmen bilden die Mehrheit im Verband und auch im Vorstand. Die meisten davon sind im Weltmarkt aktiv. Wir haben in Europa in allen Branchen hervorragende Mittelständler. Viele sind in ihren Segmenten weltweit führend. Mittelstand und Grossunternehmen arbeiten im ZVEI zusammen. Das macht seine Stärke aus.

Was verbindet die mittelständischen Unternehmen im ZVEI?

ZIESEMER: Meist eine stabile Eigentümerschaft über Jahrzehnte hinweg, der Fokus auf bestimmte Marktsegmente, aber auch eine regionale Verankerung und eine starke soziale Verbindung zwischen Mitarbeitern und Unternehmen. Das ist nicht eine Frage der Grösse, sondern der Kultur. Darum bezeichne ich auch Endress+Hauser als Mittelständler, ungeachtet der Tatsache, dass wir schon über 12.000 Mitarbeitende haben.

Welches sind Ihre Aufgaben als Präsident?

ZIESEMER: Der Präsident vertritt den Verband gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik und kümmert sich nach innen um die Zusammenarbeit und die Bündelung der Interessen der Mitglieder. Es gibt in einem grossen Verband unterschiedliche Interessen. Trotzdem muss es gelingen, dass in wichtigen Fragen alle an einem Strang ziehen!

Der ZVEI vereint mehrere Teilbranchen, die wiederum in Fachverbänden organisiert sind. Diese verfolgen ihre eigene Arbeit, aber es gibt viele Themen, die alle betreffen und herausfordern. Eine wichtige Aufgabe des Verbandsvorstands ist es, diese zentralen gemeinsamen Ziele zu identifizieren und zu verfolgen.

Welche sind heute diese zentralen Themen?

ZIESEMER: Das eine ist das Thema der Energieversorgung für die Wirtschaft und die privaten Haushalte. Der Umbau des Energiesystems ist unumgänglich, doch es gibt noch viele Baustellen. Es ist eine Generationenaufgabe mit sehr vielen Facetten – von der Energieeffizienz bis zum Ersatz fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien – wie Photovoltaik, Windkraft und Biomasse. Diese benötigen eine entsprechende Infrastruktur, die es erlaubt, Strom zu speichern und zu verteilen.

Die Technik in der Energiewirtschaft hat in den letzten Jahren einen riesigen Sprung gemacht – erneuerbare Energien haben heute die Kostenparität zu herkömmlich erzeugten Energien erreicht. Der ZVEI setzt sich für mehr Markt ein bei den Erneuerbaren. Doch wir brauchen auch ein Marktdesign, das die erneuerbaren Energien weiter fördert.

Der zweite grosse Themenkreis?

ZIESEMER: Das ist die Digitalisierung der Gesellschaft. Das Internet bewegt sich in alle Lebensbereiche hinein, ist längst mehr als Informationsquelle oder Kommunikationsplattform. Ein Beispiel dafür ist das Automobil. 30 Prozent der Wertschöpfung kommen aus der Elektroindustrie. Die Assistenzsysteme für die Spurstabilität oder Einparkhilfen sind nur der Anfang. Bald wird das Auto die Verkehrssituation selbstständig einschätzen, bei Gefahr reagieren oder auch wissen, wo der nächste Parkplatz zu finden ist. In solch einem Auto werden pro Minute Gigabytes an Daten verarbeitet.

Ähnlich verhält es sich beim «Smart Home», in welchem der Nutzer per Smartphone beispielsweise die Einstellung der Heizung überprüfen und verändern kann, oder beim «Smart Grid», dem intelligenten Stromnetz der Zukunft. Auch in Industrieanlagen ist dieser Weg bereits beschritten: Messgeräte von Endress+Hauser sind über Ethernet/IP vernetzt, tauschen Daten aus und überwachen sich selbst, wenn es um Wartung oder Kalibrierung geht.

Welche Rolle spielt dabei der ZVEI?

ZIESEMER: Ein solcher Wandel bietet immer Chancen, weil sich neue Märkte auftun und sich neue Geschäfte entwickeln. Aber natürlich auch ein Risiko – wer nicht mitgeht, kann den Anschluss verlieren. Die Digitalisierung geht tief in Wertschöpfungsstrukturen hinein und verändert Geschäftsmodelle. Durch die überall verfügbare Information können Unternehmen zum Beispiel Lieferanten schneller wechseln und ihre Logistikketten völlig neu organisieren.

Bei all diesen Chancen dürfen wir aber nicht das Thema «Datensicherheit» vergessen. Sichere Lösungen in unsicheren Netzen sind unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg des «Internets der Dinge» und einer «Industrie 4.0». Der ZVEI und die Verbände des Maschinenbaus und der IT bieten den Unternehmen dieser Branchen eine gemeinsame Plattform für die Entwicklung der erläuterten Technologien und Geschäftsmodelle.

Werden Sie noch Zeit haben für Ihre Aufgabe als COO bei Endress+Hauser?

ZIESEMER: Ich hoffe es! (Lacht) Es werden in der Tat viele Tage im Jahr sein, an denen ich in Berlin oder Brüssel bin. Aber natürlich ist der Schritt wohl überlegt, gut vorbereitet und abgestimmt mit dem Executive Board der Endress+Hauser Gruppe und mit der Gesellschafterfamilie Endress. Wir alle sind der Meinung, dass das Unternehmen davon nur profitieren kann. Vernetzung ist unendlich wichtig für ein Unternehmen und seine Führungskräfte. Man kann neue Dinge nicht immer nur von innen generieren, sie brauchen den Dialog über Firmengrenzen hinweg. Man muss über den Zaun blicken, offen sein und lernfähig.

(Bildtitel: Michael Ziesemer im Gespräch «Die Digitalisierung geht tief in Wertschöpfungsstrukturen hinein und verändert Geschäftsmodelle.»)




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