Aufsichtsräte  und Verwaltungsräte mit digitalen Kompetenzen
15. Apr 2019, Wirtschaft | Aufsichstsrat

Aufsicht in Zeiten digitaler Transformationen

Deutschlands Aufsichtsräte seien «schlecht ausgestattet», «relativ nutzlos» und «alles alte Kerle» – dass das Handelsblatt vor knapp einem Jahr seinen Artikel zu einer gerade vorgelegten Studie der Beratungsfirma Alvarez & Marsal auf diese Weise betitelte, dürfte manchen Leser mindestens irritiert, manchen aber auch direkt empört haben.

 Und tatsächlich könnte dieser Befund, sollte er sich bestätigen, wohl keinen für Corporate Governance Verantwortlichen und an Good Corporate Governance interessierten Akteur untangiert lassen. Gerade da sich Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, gar die Soziale Marktwirtschaft als solches, inzwischen nicht mehr nur an der  Schwelle zum 21. Jahrhundert befinden, sondern mitten in den vermuteten Trans-formationen hin zu global vernetzten, durchdigitalisierten Gesellschaften steht, stellt sich auch die Frage nach gelingen-der Aufsicht neu. Ein (punktueller) Blick in die weitere Empirie soll zunächst helfen, das Ausmass der Herausforderung für ihre zukünftige Funktion und ihre Rolle auf dem Weg dorthin zu erfassen:

Schon 2017 stellte eine Studie der Wirtschaftskanzlei Hengeler Mueller und des Personalberaters Heiner Thorborg fest, dass 70 Prozent der Aufsichtsräte in Deutschland das Thema «Digitale Transformation» für «sehr wichtig» oder «wichtig» halten, ihre eigenen Kompetenzen aber nur 4 Prozent der Befragten als «sehr hoch» und nur 30 Prozent als «hoch einschätzen».

«Als strategisches Führungsorgan ist es für KMU-Verwaltungsräte unabdingbar, die Implikationen der Digitalisierung für ihre Geschäftsmodelle rechtzeitig zu erkennen und zu nutzen», fassen das Schweizerische Institut für Klein- und Mittelunternehmen an der Universität St. Gallen und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft OBT AG ihr «VR-Symposium 2018» zusammen, und stellen fest, dass «Digitalisierung [...] KMU- Verwaltungsräte vor vielschichtige Herausforderungen [stellt]», da durch eben diese Verwaltungsräte «relevante Trends [...] frühzeitig erkannt und in strategische Handlungsoptionen übersetzt werden [müssen], um auch in Zukunft die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Unternehmens zu sichern.».

Ende 2018 stellte die Strategieberatung BearingPoint im Hinblick auf die Digitale Transformation der Wirtschaft in Österreich fest: «Nur von ganz oben  können Massnahmen angetrieben  werden» – und schlug eine «Digitalisierungsquote» für Aufsichtsräte vor.
StartUp-Kultur und Gründungs-erfahrung richten Kontrollorgane auf die digitale Zukunft aus
Wie soll nun vor diesem Hintergrund ein Aufsichtsrat seiner Aufgabe nachkommen können, die viel stärker als zu den Hochzeiten der Deutschland AG – in den Formulierungen des Bundesgerichts-hofs – ebenfalls eine «in die Zukunft  gerichtete Kontrolle» umfasst und regelmässig «die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer präventiven Kontrolle  begleitend» zu gestalten ist? Einer möglichen Antwort auf diese Frage, kann man sich durch die Beobachtung einer  zunächst nur entfernt nachbarschaftlichen Disziplin annähern, die ihren Paradigmenwechsel von einzig vergangenheitsbezogener Feststellungen zur zusätzlichen Zukunftsgewandtheit schon hinter sich hat: In der Medizin unterscheidet man  sowohl zwischen primärer und sekundärer Prävention, als auch die Verhaltens- von der Verhältnisprävention. Hier soll nun versucht werden, diesen Logiken folgend Handlungsempfehlungen zu formulieren:

Um «die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer [primär] präventiven Kontrolle begleitend» kontrollieren zu können, also «die Entstehung von Krankheiten zu verhindern», bietet es sich gerade für mittelständische Unternehmen an, sich der Ressource Gründerinnen und Gründer zu bedienen. Diese haben sich in ihrer Ausbildung und in ihrem Hauptberuf zumeist nicht nur passiv mit den digitalen Transformationen beschäftigt, sondern können praktische Erfahrungen aus eigener Gestaltung mit- und einbringen. Sie können dazu beitragen, das Potential von Diversität, Internationalität und insbesondere auch von Heterogenität der vertretenen Altersgruppen für die Aufsichtsratstätigkeit zu heben.
 
Dabei darf der Blick nicht ausschliesslich nach Berlin oder Zürich gehen, und keinesfalls sollte ein zu beengtes Bild die Suche nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten künstlich einschränken: So entwickelt laut einer Studie der Förderbank KfW aus dem letzten Jahr jeder vierte Social Entrepreneur eigene technologische Innovationen bis zur Marktreife, was nur gut jedes achte «klassische Startup» tut, was Gründerinnen und Gründer von Sozialunternehmen für die Stärkung des technologie- und innovationsgetriebenen, aber eben auch durch eine «Moralisierung der Märkte» (Nico Stehr) herausgeforderten strategischen Verständnisses eines Kontrollgremiums geradezu prädestiniert. Ein Beispiel aus jüngster eigener Erfahrung unterstreicht dieses Potential weiter:  Bei einem der diesjährigen Kamin-gespräche der Unternehmensberatung Kienbaum Consultants International, die der seit 2018 verantwortliche junge Firmenlenker (Selbstbezeichnung: «Chief Empowerment Officer») Fabian Kienbaum für ausgewählte junge Aufsichts- und Verwaltungsräte geöffnet hat, fand eine so spannende wie relevante  Diskussion zwischen den Teilnehmerinnen und Teil-nehmern statt. Es wurde erörtert, inwieweit die unmittelbare (also die heute spürbare) und bzw. oder eben erst die mittelbare (also die noch zu erwartende) Digitalisierung tatsächlich eine revolutionär neue Wirtschaft oder auch nur wirklich neue Geschäftsmodelle erforderlich mache, oder ob hier die Vorstände ihrer Unternehmen sich nur von einer weiteren Welle an «Moden und Mythen des Organisierens» (Alfred Kieser) tragen lassen. Es gibt durchaus Anlass, kritisch die Auswirkungen neuer Technologien und digitaler Geschäftsmodelle zu betrachten, und die Startup-Szene(n) tragen hierzu ihren Teil bei, bedenkt man beispielsweise dass die Londoner Investmentfirma MMC Ventures kürzlich bei rund 40 Prozent (!) aller «KI-Startups» in Europa feststellen konnte, dass in keiner Weise wirkliche Künstliche Intelligenz genutzt wurde oder angeboten wird. Dies ist jedoch, wie auch der Verlauf der Diskussion bei Kienbaum ergab, keineswegs ein Argument gegen Startup-Gründer als Aufsichtsratsmitglieder, im Gegenteil: Gerade sie sind überdurchschnittlich geeignet, das Gremium auf die tatsächliche Relevanz von technologischen Entwicklungen und ihrer Folgen (beispielsweise in Form neuer Geschäftsmodelle oder Wettbewerber) hin-zuweisen, und die Wahrscheinlichkeit zur Identifikation von false positives und false negatives durch den Vorstand zu erhöhen.

Die sekundäre Prävention ist auf die Früherkennung von Krankheiten gerichtet. Um in diesem Sinne «die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer [sekundär]präventiven Kontrolle» zu begleiten, bietet sich eine Aufschlauung des Aufsichtsrats an: Wo (noch) keine Gründerinnen und Gründer in die direkte Verantwortung aufgenommen werden sollen oder können, lässt sich möglicher-weise ein Aufsichtsrat-in-Residence- Programm etablieren. Da, wie eingangs erwähnt, 70 Prozent der Aufsichtsräte in Deutschland das Thema «Digitale Trans-formation» für «sehr wichtig» oder «wichtig» halten, und ein Aufsichtsrat grundsätzlich mit der Kompetenz ausgestattet ist, Sachverständige zu beauftragen sowie diese dann zu leiten und zu überwachen, wäre ein solches Programm möglich und wünschenswert. Wo es nicht möglich ist, sollten Gesetzgeber und Regulatoren dies ändern. Eine praktische Nachvollziehbarkeit für ein solches Programm gibt die Harvard Business School, die «Entrepreneurs [who] have founded, sold, or IPO’d successful ventures in tech, consumer products, healthcare, biotech, media and entertainment» als «Entrepreneurs in Residence» einlädt, die dann «come to campus 6-7 times per year to meet with students 1:1 [...] and work with faculty on research and course development.» Die jungen Aufsichtsräte-in-Residence-Teilnehmer stehen mit ihrem Sachverstand und ihren Erfahrungen im Hinblick auf die Digitale Transformation so auch niedrigschwellig solchen Gremien zur Verfügung, die beispielsweise von ihren Wahlen noch weit entfernt sind – und es würden, ganz im Sinne des «Reverse Mentoring», beide Seiten hiervon profitieren.
Jedes Unternehmen sollte handeln – aber eben auch Verbände, Regulatoren, Gesetzgeber
Was könnte es aber heissen, «die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer [verhaltens- und verhältnis] präventiven Kontrolle begleitend» zu erlauben? Hier geht es nun um inter-disziplinäre und transsektorale Aspekte zwischen Wirtschafts-, Bildungs-, und Digitalpolitik, die sowohl Deutschland als auch die Schweiz für sich zu entscheiden haben werden. Die bisher besprochenen Handlungsempfehlungen betreffen jeweils die einzelnen Organisationen, die als Betroffener gedacht wurden; fachlich formuliert bedeutet das, dass «die Verhaltensprävention sich unmittelbar auf den einzelnen Menschen und dessen individuelles Gesundheitsverhalten [bezieht], mit dem Ziel, Risikofaktoren zu reduzieren». Demgegenüber ist die sog. Verhältnisprävention eine solche, die «Lebens- und Arbeitsverhältnisse» einbezieht – also die systemischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. In diesem Sinne bedarf es unbedingt allgemeiner und allgemein zugänglicher Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Gründerinnen und Gründer, die sich ein Engagement als Aufsichtsrat vorstellen können. Einzelne hervorzuhebende Initiativen – wie die Seminarreihe «Privatissimum für (junge) Aufsichtsräte und Beiräte» des Centrums für Strategie und Höhere Führung um Prof. Dr. Klaus Schweinsberg, das «ArMiD-Mentoring» des Aufsichtsräte Mittelstand in Deutschland e.V., oder die eLearning-Module des Initiators der DIN SPEC 33456 («Leitlinien für Geschäfts-prozesse in Aufsichtsgremien») Prof. Dr. Bernd Schichold um eben jene Prozess-gestaltung herum – leisten für den ganzen DACH-Raum grossartige Pionierarbeit, sind jedoch nur bedingt als skalierbare Lösung für die Qualifikation ausreichender junger Aufsichtsräte  geeignet, und oft auch nicht darauf angelegt.

Neben der Aus- und Weiterbildung bedarf es für eine gelingende Verhältnisprävention der in digitaler Transformation befindlichen Wirtschaft auch einer von Anfang an gut gestalteten Stellung der jungen Wilden im Aufsichtsrat, was sich beispielsweise durch die Einführung der Rolle eines Digitalisierungsexperten (analog zum Finanzexperten) und durch die Zurverfü-gungstellung eines Aufsichtsratsbüro für junge Aufsichtsräte bewerkstelligen liesse.
 
Die Verbände der mittelständischen Wirtschaft, einschliesslich die Handelskammern in Deutschland und der Schweiz, sollten sich für solche Rahmenbedingungen einsetzen, die es ihren Mitgliedern erlauben, das Potential von Gründerinnen und Gründern für ihre Auf-sichtsräte pragmatisch zu heben. Es ist die beste Prävention für die Herausforderungen der Sozialen Marktwirtschaft in der Zukunft.



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