Mindestlöhne
2. Mär 2022, Wirtschaft | Mindestlohn

Anwendbarkeit der kantonalen Mindestlöhne für in die Schweiz entsandte ausländische Arbeitnehmer

Aktuelle Situation und Ausblick

Zwischen 2015 und 2020 stieg die Zahl der in der Schweiz erwerbstätigen Ausländer viermal stärker an als die Zahl der erwerbstätigen Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft1. Zur ausländischen Erwerbsbevölkerung gehören entsandte Arbeitnehmer, d. h. die von einem Arbeitgeber mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland angestellt und von diesem für einen bestimmten Zeitraum in die Schweiz entsandt werden, um eine Arbeitsleistung auf seine Rechnung und unter seiner Leitung zu erbringen2.

Im schweizerischen Recht regelt das Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999 über die entsandten Arbeitnehmer (EntsG; SR 823.20) die auf entsandte Arbeitnehmer anwendbaren minimalen Bedingungen. Gemäss diesem Gesetz müssen ausländische Arbeitgeber unter anderem minimale Entlöhnungen einhalten, sofern solche in einem der in Art. 2 Abs. 1 EntsG aufgeführten Rechtsdokumente vorgeschrieben sind.

In den letzten vier Jahren ist in mehreren Schweizer Kantonen mit kantonalen Erlassen ein obligatorischer Mindestlohn in Kraft getreten3. In der Aufzählung von Art. 2 Abs. 1 EntsG sind kantonale Vorschriften jedoch nicht erwähnt4.

Bei ausländischen Arbeitgebern, die Arbeitnehmer in einen Kanton entsenden, der einen Mindestlohn vorsieht, stellt sich daher die Frage, ob sie verpflichtet sind, sich an den in den jeweiligen kantonalen Gesetzen vorgesehenen Mindestlohn zu halten.

Um diese Frage sowohl für die Arbeitgeber, die ihre Pflichten kennen wollen, als auch für die entsandten Arbeitnehmer, die ihre Lohnansprüche kennen wollen, zu klären, wird in diesem Artikel zunächst kurz (I) auf die Existenz von Mindestlöhnen in der Schweiz eingegangen, bevor (II) die Anwendbarkeit der kantonalen Mindestlöhne auf entsandte Arbeitnehmer und (III) die Notwendigkeit der Aufnahme einer spezifischen Bestim- mung in das Entsendegesetz untersucht werden, mit einer daran anschliessenden Schlussfolgerung (IV).

I. Mindestlöhne in der Schweiz

Auf Bundesebene kennt die Schweiz keinen staatlichen Mindestlohn. Eine Volksinitiative zur Einführung eines solchen Systems wurde am 18. Mai 2014 von 76.3 % der Stimmenden abgelehnt5.

In der jüngeren Vergangenheit haben jedoch mehrere Schweizer Kantone einen kantonalen Mindestlohn eingeführt.

Bisher ist in vier Kantonen – Neuenburg (2017), Jura (2018), Genf (2020) und Tessin (2021) – ein kantonales Mindestlohngesetz in Kraft getreten6. Des Weiteren hat der Kanton Basel-Stadt am 13. Juni 2021 den Gegenvorschlag zur Mindestlohn-Initiative gutgeheissen und wird deshalb bald einen Mindestlohn einführen7.

Das Schweizerische Bundesgericht (das «Bundesgericht») hat die Rechtmässigkeit und Verfassungsmässigkeit kantonaler Mindestlöhne, die es als sozialpolitische Massnahmen interpretierte8, unter bestimmten Voraussetzungen bestätigt.

II. Die Anwendbarkeit der kantonalen Mindestlöhne auf entsandte Arbeitnehmer

Bei der Untersuchung der Anwendbarkeit der kantonalen Mindestlöhne auf entsandte Arbeitnehmer ist der Wortlaut der Gesetzestexte der fünf heute betroffenen Kantone zu berücksichtigen.

In Bezug auf den Geltungsbereich dieser Erlasse lassen sich zwei allgemeine und eine engere Gesetzesformulierung unterscheiden.

In die erste Kategorie fällt zunächst der Kanton Jura, der in Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Jura vom 22. November 2017 (SR/JU 822.41) über den kantonalen Mindestlohn die Anwendung dieses Gesetzes auf alle Arbeitnehmer auf seinem Kantonsgebiet vorsieht9.

Ebenso hat der Kanton Basel-Stadt, wo das Mindestlohngesetz noch nicht in Kraft getreten ist, die Gültigkeit dieses Mindestlohns für alle Arbeitnehmer vorgesehen10.

In diesen beiden Kantonen umfasst der Geltungsbereich des Gesetzes gemäss dem klaren Gesetzestext somit die entsandten Arbeitnehmer. Auch wenn sich das Bundesgericht nicht ausdrücklich zur Frage geäussert hat, ob die Kantone einen Mindestlohn für entsandte Arbeitnehmer vorsehen können, ist festzuhalten, dass nach jetzigem Stand die entsandten Arbeitnehmer im Kanton Jura und demnächst im Kanton Basel-Stadt Anspruch auf einen Mindestlohn haben11.

Demgegenüber sehen die kantonalen Gesetze der übrigen drei Kantone im Wesentlichen eine Anwendung des Mindestlohngesetzes nur für Arbeitnehmer vor, die ihre Arbeit gewöhnlich auf Kantonsgebiet verrichten12.

Diese drei Kantone übernehmen somit die Regel des «gewöhnlichen Arbeitsortes» des Arbeitnehmers, d. h. des Staates, in dem der Arbeitnehmer die Arbeit gewöhnlich verrichtet13.

Entsandte Arbeitnehmer sind aber gerade vorübergehend «entsandt» von ihrem gewöhnlichen Arbeitsort. Während die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Arbeitsortes und die Frage, ob der Ort der Entsendung ein solcher ist, im Grundsatz Sache der Gerichte ist, besteht in der Praxis des internationalen Privatrechts Einigkeit, dass der gewöhnliche Arbeitsort von einer vorübergehenden Entsendung nicht berührt wird14.

Der gewöhnliche Arbeitsort der in die Schweiz entsandten Arbeitnehmer bleibt somit derjenige des Staates, aus dem sie entsandt wurden.

Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen sind sie offensichtlich vom Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes der Kantone Genf, Neuenburg und Tessin ausgenommen und könnten in diesen Kantonen daher keinen Anspruch auf einen solchen Mindestlohn haben15.

III. Die Aufnahme einer besonderen Bestimmung im Bundesgesetz

Angesichts der Einführung der erwähnten kantonalen Erlasse und im Anschluss an eine Motion des Schweizerischen Parlaments verabschiedete der Bundesrat am 28. April 2021 die Botschaft (die «Botschaft») sowie den Gesetzesentwurf zur Teilrevision des Entsendegesetzes.

In diesem Zusammenhang schlägt der Bundesrat vor, Artikel 2 EntsG um einen Absatz 1bis zu ergänzen. Mit diesem neuen Absatz sollen die Entsendebetriebe, die Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung der kantonalen Mindestlöhne verpflichten werden, jedoch nur sofern die entsandten Arbeitnehmer unter den persönlichen und sachlichen Geltungsbereich der kantonalen Mindestlohngesetze fallen, da der Bundesrat keine Kompetenz hat, den Geltungsbereich
von kantonalen Mindestlohngesetzen zu erweitern16.

Mit dem erwähnten Zusatz wären die Entsendebetriebe nur dann verpflichtet, den kantonalen Mindestlohn zu garantieren, wenn das kantonale Recht diesen Lohn auch für Arbeitnehmer anwendet, deren gewöhnlicher Arbeitsort ausserhalb des Kantons liegt17.

Eine solche Anwendung scheint jedoch bereits aktuell zu sein, da Arbeitgeber, die Arbeitnehmer nach Genf, Neuenburg und ins Tessin entsenden, mit oder ohne die Einführung von Art. 2 Abs. 1bis EntsG nicht verpflichtet zu sein scheinen, den geltenden kantonalen Mindestlohn einzuhalten. Selbstverständlich müssen sie jedoch eine allfällige minimale Entlöhnung einhalten, die in einem anderen Rechtsdokument, beispielsweise in einem GAV, festgelegt ist.

Diese Ansicht scheint von der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates (WAK) geteilt zu werden, die nach Prüfung mit grosser Mehrheit vorgeschlagen hat, nicht auf die Motion einzutreten. Der Ständerat wird das weitere Vorgehen in der Herbstsession 2021 behandeln, die zwischen dem 13. September und dem 1. Oktober 2021 stattfindet18.

Es bleibt anzumerken, dass der bundesrätliche Entwurf von einzelnen Kantonen und politischen Parteien sowie von einzelnen Organisationen insbesondere aus folgenden Gründen stark kritisiert wird: inakzeptabler Eingriff in den sozialpartnerschaftlichen Vollzug; Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen; fehlende Rechtsgrundlage19.

Es wird daher von Interesse sein, die Entwicklungen in den kommenden Monaten weiterzuverfolgen.

IV. Schlussfolgerung

Die Frage, ob ausländische Entsendebetriebe die kantonalen Mindestlöhne einhalten müssen, ist in der Praxis für die Arbeitgeber von Bedeutung, um Sanktionen oder arbeitsrechtliche Verfahren zu vermeiden, und für die Arbeitnehmer, um den ihnen zustehenden Lohn zu erhalten.

Zum jetzigen Zeitpunkt besteht a priori keine gesetzliche Pflicht, ausser wahrscheinlich für die in den Kanton Jura entsandten Arbeitnehmer und in Kürze für die in den Kanton Basel-Stadt entsandten Arbeitnehmer, die in den kantonalen Gesetzen vorgesehenen Mindestlöhne einzuhalten. Um die Anwendung solcher Löhne auf die in die Kantone Genf, Neuenburg und Tessin entsandten Arbeitnehmer in Betracht zu ziehen, scheinen kantonale Gesetzesänderungen unabdingbar zu sein.

Die übrigen Kantone, die wie Jura und Basel-Stadt die Einführung eines kantonalen Mindestlohns wünschen, wären in Zukunft gut beraten, einen Geltungsbereich vorzusehen, der die Gesamtheit der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse auf ihrem Kantonsgebiet umfasst.

Schliesslich dürfte sich mit der Änderung des Entsendegesetzes, der nicht zwingend Folge geleistet wird, in der Praxis nichts ändern, sondern es wäre möglich, den Grundsatz ausdrücklich in einem Bundesgesetz zu verankern.

1 Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Bundesamt für Statistik BFS, Arbeitsmarktindikatoren 2021, Neuenburg 2021.
2 Rémy Weiler/Boris Heinzer, Droit du travail, 4. Aufl., Stämpfli Editions (Bern) 2019, S. 1163 und 1166.
3 Botschaft vom 28. April 2021 zur Änderung des Entsendegesetzes, BBl 2021 1120 (die «Botschaft»), S.6 / 30.
4 Kurt Pärli, Entsendegesetz (EntsG), SKH – Stämpflis Handkommentar, Stämpfli Verlag AG, 2018, Art. 2, S. 78 N 13.
5 Rémy Weiler/Boris Heinzer, Droit du travail, 4. Aufl., Stämpfli Editions (Bern) 2019, S. 184.
6 Botschaft, S. 6 / 30 mit Nachweisen.
7 https://www.awa.bs.ch/arbeitgebende-unternehmen/arbeitsrecht/Kantonaler-Mindestlohn.html.
8 Botschaft, S. 5 / 30.
9 Idem, S. 6 / 30 mit Nachweisen.
10 ab.https://www.staatskanzlei.bs.ch › dam › w-a-2021.
11 Botschaft, S. 6 / 30 mit Nachweisen.
12 Ibidem.
13 Françoise Martin Antipas, Droit suisse impératif du contrat de travail international, Panorama III en droit du travail, IDAT – Institut du droit des assurances et du travail, 2017, S. 726.
14 Estelle Mathis Zwygart, l’application des conventions collectives de travail aux contrats de travail temporaire, Deuxième partie : Les conventions collectives de travail / Chapitre 11 : Champ d’application d’une CCT, CN – Collection neuchâteloise, 2012, S. 128 N. 442 ; Botschaft, S. 7 / 30 mit Nachweisen.
15 Botschaft, S. 7 / 30.
16 Idem, S. 19 / 30.
17 https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20210032.
18 Ibidem.
19 Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung, Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Änderung des Entsendegesetzes, Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens, Bern, 28. April 2021.



Schliessen Button
Immer erstklassig informiert

Melden Sie sich für den Newsletter der Handelskammer Deutschland-Schweiz an.