Schweizer Sozialstaat vor neuen Herausforderungen
7. Feb 2014, Wirtschaft | Altersvorsorge Schweiz

Schweizer Sozialstaat vor neuen Herausforderungen

Die Schweiz verändert sich. Mit ihr die Gesellschaft und deren Bedürfnisse - und damit auch die Anforderungen an die soziale Sicherheit. Dabei rückt insbesondere die Altersvorsorge in den Vordergrund.

Vor 65 Jahren zahlte die Alters- und Hinterlassensversicherung (AHV) die ersten Renten aus. Damals lebten in der Schweiz 4,6 Millionen Menschen - gut 450.000 waren im AHV-Alter; die Lebenserwartung der Männer betrug in etwa 66 Jahre, die der Frauen 70 Jahre und eine von zehn Ehen wurde geschieden. In der Zwischenzeit leben bald 8 Millionen Menschen im Land, davon 1,4 Millionen im AHV-Alter. Die Männer werden im Durchschnitt 81 Jahre alt, die Frauen sogar 85, und jede zweite Ehe endet vor dem Scheidungsrichter. Der immense Wachstum und die damit einhergehenden Veränderungen zeigen, dass die Sozialversicherungen regelmässig hinterfragt und angepasst werden müssen.

Seit gut einem Jahrzehnt tut sich die Schweiz aber gerade damit schwer. Die Reformen stauen sich, dabei sind die ersten beiden Säulen auf lange Sicht nicht ausreichend finanziert. Darüber herrscht zwar weitgehend Einigkeit, aber trotzdem sind die Reformprojekte der letzten 15 Jahre gescheitert. Und damit wurden die Probleme der einzelnen Versicherungszweige bisher weder in der Volksabstimmung noch im Parlament gelöst.

Rückblickend gesehen, waren es wahrscheinlich zwei Faktoren, die zu diesen Misserfolgen geführt haben: Erstens waren es jeweils sektorielle Reformen, bei denen der Blick für das übergeordnete Ganze fehlte; zweitens wurden jeweils die Anforderungen und die «Mechanik» der Versicherungen ins Zentrum gestellt anstatt die Bedürfnisse der Versicherten.

Vom Rentenalter zur Altersvorsorge - Faktoren einer erfolgreichen Reformation

Ein ganzheitlicher Ansatz ist für eine erfolgreiche Reformation ausschlaggebend. Versicherungszweige, deren Leistungen und ihre Finanzierung sollten dabei nicht einzeln betrachtet werden. Die Bevölkerung und die Betroffenen müssen das ganze Bild vor Augen haben - nicht nur einzelne Pinselstriche. Sie müssen beurteilen können, wie sich ihre Situation als Ganzes darstellt und allenfalls verändern wird.

Schlagzeilenträchtige und umstrittene Massnahmen, wie das gleiche Rentenalter für Mann und Frau, verlieren dann die Brisanz, die sie als einzelne und isolierte Veränderungen haben. Bei der Invalidenversicherung führte diese Strategie zum Erfolg. Eingebettet in einen umfassenden und kohärenten Sanierungsplan, schaffte die Steuererhöhung für die IV in der Abstimmung sogar die hohe Hürde von Volks- und Ständemehr.

Auch bei der Reform der Altersvorsorge sind Mehrheiten nur zu gewinnen, wenn die Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund stehen und nicht die technischen Parameter der Versicherungen, wie beispielsweise der Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge. Bei den Leistungen der obligatorischen Altersvorsorge gibt es keinen Spielraum nach unten. Die Vorgaben der Verfassung müssen respektiert werden, damit sich die Versicherten langfristig darauf verlassen können.

Eine generelle Erhöhung des Rentenalters kommt nicht in Frage - so lang die Wirtschaft nicht bereit ist, die älteren Arbeitnehmenden zu beschäftigen. Die misslungenen Reformen der Vergangenheit scheiterten auch daran, dass die Parteien, Sozialpartner und Verbände einander misstrauten. Nicht zuletzt aus diesem Grund muss ein neuer Anlauf in einem umfassenden und transparenten Reformpaket bestehen. Es darf keine vorgezogenen Einzelmassnahmen geben. Die politischen Akteure müssen erkennen und sich darauf verlassen können, dass es keine Salami-Taktik und keine Rosinenpickerei geben wird. Die Kompromissbereitschaft, die nötig sein wird, darf nicht durch taktische Spiele kompromittiert werden können.

Zeit für Veränderung

Noch sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorteilhaft und die Versicherungen sind nicht in akuter Not. Es bleibt also Zeit, die Reform der Altersvorsorge sorgfältig anzugehen. Jetzt ist es noch möglich, die notwendigen Veränderungen in einem Tempo zu realisieren, das Demokratie, Gesellschaft und Wirtschaft nicht überfordert und auch den Einzelnen die Zeit zur Anpassung lässt. Es ist besser, etwas langsamer ans Ziel zu kommen als zu schnell in eine neue Sackgasse zu fahren. Das heisst aber auch, das jetzt nichts mehr verzögert wird, sonst schmilzt die Zeit - und mit ihr der politische Handlungsspielraum.

(Bildquelle: © 4774344sean/iStockphoto)




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